von Bea Gellhorn, Langen
Wie Kinder zu Fontanes Zeiten auf dem Land lebten
Völlig unscheinbar hing das Foto in seinem alten, teils abgeblättertem Rahmen an einem Balken auf dem Dachboden unseres 2016 erworbenen Hauses in Langen. Weil es einen ganz besonderen Zauber ausstrahlte, holten wir es irgendwann in unsere Wohnküche. Es zeigt eine Schulklasse von 50 Schülern und Schülerinnen mit ihrem jungen Lehrer aus dem Jahr 1905. Also waren die Kinder noch im vorletzten Jahrhundert geboren worden.
Wie erlebten sie ihren Schulalltag? Wie gestaltete sich ihre Kindheit hier in Langen? Wie sah das Leben im Dorf Anfang des 20. Jahrhunderts aus? Die Antworten auf diese Fragen mussten einige Jahre warten, da wir zunächst mit der Restauration und dem Wiederaufbau unseres ehemaligen Vierseitenhof beschäftigt waren.
Historischer Schatz
2020 packte mich dann der Forschergeist: Ich recherchierte vor Ort und im Internet, ich befragte Ortskundige und einige Dorfälteste. Und ich nahm Kontakt zu Armgard Schütte-von Beust auf, die in Langen 1945 als Tochter des letzten Gutsbesitzers von Brockhusen geboren wurde.
In den zahlreichen Telefonaten und bei unseren persönlichen Treffen erzählte sie mir über das Gut, ihre Familiengeschichte und das frühere Leben in Langen. Vertrauensvoll öffnete sie ihr Familienalbum. Ich sah Fotos, die in Langen bisher noch nicht öffentlich gezeigt wurden. Zum Glück konnte ich Armgard für meine Idee einer Ausstellung gewinnen. Es war die einmalige Gelegenheit, diesen historischen Schatz nach Langen zu holen.
Eröffnung der Ausstellung
Nach drei Jahren war es endlich so weit: Am 23. September 2023 wurde die Ausstellung „Alte Ansichten und früheres Dorfleben in Langen – Die Anfänge des 20. Jahrhunderts“ im Gemeindehaus eröffnet. André Schmitz, der ehemalige Kulturstaatssekretär von Berlin, eröffnete zusammen mit mir als Kuratorin den gutbesuchten Abend. Armgard Schütte-von Beust konnte aufgrund ihrer schweren Erkrankung leider nicht zur Vernissage anreisen, was sie zutiefst bedauerte. Sie verstarb am 11. Februar 2024.
Die Ausstellung mit insgesamt 32 historischen Ansichten eröffnet unbekannte Einblicke in das Langener Dorfleben vor hundert Jahren. Zu sehen ist auch das Foto einer Mandoline spielenden Frau – es ist Armgards Großmutter, Irmgard von Quast, geborene Brockhusen (1897-1991), die 1945 vor den Russen aus Langen geflohen war. Als kleines Highlight präsentierte ich meinen Dachbodenfund und konnte nun endlich die Ergebnisse meiner Recherche zu diesem Foto mit den Gästen teilen.

Irmgard von Quast, geb. Brockhusen (1897–1991), Anfang 1920er-Jahre
Quelle: Armgard Schütte-von Beust
Die Geschichte hinter dem Klassenfoto
Das Foto zeigt eine der zwei Schulklassen, die es Anfang des 20. Jahrhunderts in Langen gab. Die Anzahl der auf dem Foto abgebildeten Schülerinnen und Schüler (50) entsprach der damals üblichen Klassengröße in einem Dorf. Obwohl die Kinder unterschiedlichen Alters waren und über unterschiedliche Leistungsniveaus verfügten, wurden sie mangels Raum- und Personalkapazitäten von einem Lehrer gleichzeitig in einem Klassenraum unterrichtet. Der Unterricht beschränkte sich oft auf Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Es wurde viel Wert auf religiöse Bildung gelegt, weil eine Trennung zwischen Staat und Kirche fehlte. Der Unterricht begann und endete oft mit einem Gebet, und der Kirchenbesuch war obligatorisch.
Wer konnte, so lässt es sich vermuten, hatte sich für dieses Klassenfoto „fein gemacht“. Doch manche trugen nur ihre alltägliche Kleidung und ein Junge in der ersten Reihe besaß offenbar nicht einmal Schuhe. Es fällt auf, dass kein Kind in die Kamera des Wanderfotografen lächelt, obwohl das zur damaligen Zeit ein großes Ereignis im Dorf war. Ihre ernsten Gesichter sind Ausdruck der schweren Lebens- und Arbeitsbedingungen der Landbevölkerung jener Zeit.

Kinderfest in Langen, 1930
Quelle: Bea Gellhorn
Schwere Kindheit auf dem Land
Das Leben der Bauernfamilien, die im Dorf einen kleinen Hof betrieben, war bestimmt vom landwirtschaftlichen Jahreszyklus. Und weil die Landwirtschaft Priorität besaß, war der Schulbesuch der Kinder oft unregelmäßig. Stand die Ernte an, wurden die Bauernkinder von der Schulpflicht sogar befreit. Oder die Schule wurde gleich ganz geschlossen, wie in den sogenannten „Kartoffelferien“, den heutigen Herbstferien.
Aber auch während der Schulzeit mussten die Kinder auf den Höfen ihre Eltern arbeiten. Frühmorgens, zwischen 4.00 und 5.00 Uhr, mussten sie aufstehen, das Vieh von der Weide holen, beim Melken helfen und das Vieh dann wieder auf die Weide treiben. Anschließend ging es zur Schule – für viele eine willkommene Abwechslung zur harten Arbeit. Nachmittags und am Wochenende kamen weitere Pflichten hinzu: Sie mussten auf den Feldern mitarbeiten, das Vieh hüten, Wasser holen, Holz hacken und andere Haus- oder Hofarbeiten erledigen.
Freizeit im heutigen Sinne hatten die Kinder kaum. Wenn sie Zeit hatten, spielten sie draußen einfache Spiele, wie Ballspiele oder Seilhüpfen. Spielzeug war meist handgemacht. Die Erziehung war streng. Kinder mussten sich den Erwachsenen gegenüber respektvoll und gehorsam verhalten. Körperliche Züchtigung war sowohl in der Schule als auch zu Hause eine übliche Erziehungsmethode.
Zudem litten die Kinder einfacher Bauersfamilien oft an Unterernährung. Die medizinische Versorgung war in ländlichen Gegenden nicht ausreichend und die Kindersterblichkeit hoch, da Infektionskrankheiten wie Masern, Scharlach und Tuberkulose weit verbreitet waren.
Träume und Wirklichkeit
Wovon haben diese Kinder wohl geträumt?
Wie stellten sie sich ihre Zukunft vor?
Was für Ziele hatten sie?
Aus den Erzählungen geht hervor, dass sie ihre Zukunft weitgehend vorherbestimmt sahen, weil ihr Leben von den Traditionen und der ländlichen Lebensweise abhing. Sie erwarteten ein Leben ähnlich dem ihrer Eltern – geprägt von harter Arbeit, den begrenzten Möglichkeiten auf dem Land und einem festen Platz in der dörflichen Gemeinschaft. Für große Träume oder berufliche wie private Ambitionen ließen die Lebensumstände wenig Raum. Stattdessen lernten sie früh, dass Beständigkeit, Verantwortung und das Überleben im Vordergrund standen.
Und dennoch haben Kinder zu allen Zeiten geträumt, was ihnen sicherlich die Kraft gab, die harten Anforderungen der damaligen Zeit zu bewältigen und mit dem Wenigen auszukommen, was ihnen das Leben bot.
Zur Autorin: Bea Gellhorn, Kuratorin der Dauerausstellung im Gemeindehaus Langen

Bea Gellhorn bei der Eröffnung der Ausstellung im Gemeindehaus Langen, 2023
Foto: Bea Gellhorn
Führung
- Bea Gellhorn steht für Führungen zur Verfügung. Interessierte wenden sich bitte direkt an sie unter Tel. 033 932 / 29 09 20.
Weblinks
- Fontanes Langen; in: Neue Wanderungen (diese Website)
- Informationen über die Kirche und die Pfarrer/innen in Langen; in: Förderverein Stüler-Kirche Langen e.V.