Veröffentlicht von Gabriele Radecke und Robert Rauh.
Sie geriet in höchste Aufregung, fast in Zorn, und drohte, mit einem mehrfach wiederholten „jamais“, niemals unter diesen Umständen aufzutreten. Die französische Schauspielerin Rachel Félix war empört. Empört darüber, was man ihr in Preußen zumuten wollte. Was war geschehen?
Rachel Felix hielt sich 1852 für ein Gastspiel in Berlin auf und König Friedrich Wilhelm IV. – ein großer Verehrter der weltberühmten Tragödin – wollte sie für eine zusätzliche Vorstellung gewinnen. Es sollte eine Überraschung für das russische Kaiserpaar werden, das gerade auf Staatsbesuch in Potsdam weilte. Anlass war der Geburtstag der Zarin Alexandra Feodorowna, der Schwester des preußischen Königs. Mit der Organisation des Abends beauftragte Friedrich Wilhelm seinen Mann für alle Fälle: den königlichen Vorleser und Hofrat Louis Schneider. Die Rachel sagte spontan zu und rechnete mit einem Auftritt im Neuen Palais oder im Potsdamer Stadttheater. Als ihr Schneider bei der Ankunft auf dem Potsdamer Bahnsteig eröffnete, sie würde im Freien auf der Pfaueninsel spielen, reagierte sie entsetzt.
„Weltberühmte Tragödin“: Schauspielerin Rachel Félix (1821–1858)
Quelle: Porträt von William Etty, ca. 1840
Und drohte umgehend abzureisen. Warum sie dennoch auf der Insel spielte – das interessierte nicht nur Fontane.
„So großartig“
Der märkische Wanderer griff die Geschichte dankbar auf, als er zwanzig Jahre später das Kapitel über die Pfaueninsel für seinen „Havelland“-Band konzipierte. Er hatte die Rachel im Theater erlebt und seiner Frau gegenüber „das Bewundernswerte dieser Erscheinung“ hervorgehoben. „Gleich der erste Moment ihres Auftretens, eh sie noch ein Wort gesprochen hat“, schrieb er 1852 an Emilie, sei „6 deutsche Theaterabende wert. Das nenn` ich ein lebendes Bild! Im Übrigen leidet sie alle 5 Akte durch an der der Nymphomanie (Mannstollheit) was allerdings mehr in die Charité als auf die Bühne gehört. Eine Verirrung! aber so großartig, dass man zu keiner direkten Verdammung kommen kann.“
Auch prominente Zeitgenossen überschlugen sich mit Lobeshymnen. So war sie für Gottfried Keller „der größte Künstler, den ich kenne“. Angesichts dieser Reputation wollte Hofrat Schneider unbedingt einen Eklat verhindern.
Beliebtes Ausflugsziel schon zu Fontanes Zeiten: Überfahrt zur Pfaueninsel, Postkarte, ca. 1915
Quelle: Archiv Rauh
Mitschrift im Notizbuch
Wie Fontane die Hintergründe erfuhr – das verrät sein Notizbuch. Darin findet sich die Mitschrift eines Vortrags über den legendären Auftritt der Rachel Félix, den der Hofrat auf Einladung des Potsdamer Geschichtsvereins am 29. Juni 1870 hielt. Der Veranstaltungsort hätte nicht besser gewählt sein können. Schneider referierte: auf der Pfaueninsel. Also genau dort, wo vor 18 Jahren Rachels Soloauftritt im Freien über die Bühne gegangen war. Von Potsdam aus fuhren über 120 Interessierte – begleitet von einem Musikchor – über die Havel auf die Pfaueninsel. Unter ihnen auch Fontane. In seinem Notizbuch skizzierte er darüber hinaus die von Schneider beschriebene provisorische Spielstätte auf dem Rasen: in der Mitte die Schauspielerin, von einem „engen Kreis von Generalen, Diplomaten, Ministern, Hofherren“ umschlossen.
In der Mitte die Schauspielerin: Fontanes Vortragsmitschrift vom 29. Juni 1870 auf der Pfaueninsel
Quelle: Digitale Notizbuchedition, Notizbuch C3
Natürlich erzählte der Hofrat, wie es ihm gelungen war, die Rachel davon zu überzeugen, doch auf der Pfaueninsel aufzutreten. Er wusste, dass der Schauspielerin St. Petersburg verschlossen war. Der Zar „machte sich nichts aus ihr“, notierte Fontane, „weil sie 1848 als Göttin d. Freiheit die Marsaillaise gebrüllt hatte. Er wollte sie nicht in Russland.“ Weil sie dort aber unbedingt spielen wollte, erklärte ihr Schneider: Hier, in Preußen, „war nun ein terrain neutre [neutraler Boden] gegeben“.
In den „Wanderungen“ hat Fontane das Werben um die Schauspielerin poetisch ausgeschmückt: Geschickt stellte der Hofrat die Rachel vor die Wahl, den Kaiser entweder zu enttäuschen, wenn sie nicht auf der Pfaueninsel erschiene, oder zu versöhnen, „wenn sie ihrer Zusage treu bleibe“. Daraufhin rief sie aus: „Je jouerai. [Ich werde spielen.]“ Und sie spielte „groß, gewaltig“. Das Fehlen von „Flitter und Dekorationen“ hätte die Wirkung nur gesteigert. Die Zuschauer zeigten sich begeistert. Der Zar lud die Rachel nach Russland ein, „das Ziel [war] erreicht, der große Preis des Abends gewonnen.“
Falsches Datum
An der Stelle, wo die Rachel „einen ihrer größten Triumphe gefeiert hatte“, so lässt Fontane seine Geschichte enden, erhebe sich jetzt eine Statuette der Künstlerin mit der einfachen Inschrift: „den 15. Juli 1852“. Das Datum, das Fontane auch für die Überschrift des Rachel-Kapitels verwendete, ist allerdings nicht korrekt. Sie trat zwei Tage früher auf. Offenbar hatte Fontane es 1870 falsch mitgeschrieben. Die Angabe konnte er nicht überprüfen, weil Schneider seinen Vortrag in freier Rede hielt und Auszüge daraus erst postum in seinen Memoiren 1879 veröffentlicht wurden.
Die kleine Statue, von dem Bildhauer Bernhard Afinger geschaffen, existiert noch. Sie ist äußerst filigran gestaltet: Rachel Félix trägt ein faltenreiches und hoch gegürtetes antikes Kostüm, in dem sie vermutlich als Camille in Corneilles Drama „Horace“ aufgetreten war. Das Original der Statuette befindet sich im Schloss auf der Pfaueninsel und seit 1993 eine Kopie an historischer Stelle dahinter – mit dem korrekten Datum.
Noch immer zu sehen: Statuette der Rachel Félix von Bernhard Afinger auf der Pfaueninsel
Quelle: Robert Rauh
Quelle:
Berliner Zeitung vom 19.12.2019
https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/fontanes-berliner-notizen-das-nenn-ich-ein-lebendes-bild-li.3508?pid=true
Literatur:
Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Havelland.
– Erste Auflage unter dem Titel: «Osthavelland: Die Landschaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg», Verlag von Wilhelm Hertz, Berlin 1873.
– Zweite, stark veränderte Auflage unter dem Titel: «Havelland», Verlag von Wilhelm Hertz, Berlin1880.
– Dritte, unveränderte Auflage unter dem Titel: «Havelland: Die Landschaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg », Verlag von Wilhelm Hertz, Berlin1888.
– Vierte, unveränderte Auflage unter dem Titel: «Havelland: Die Landschaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg », Verlag von Wilhelm Hertz 1892 [Wohlfeile Ausgabe].
Theodor Fontane, Notizbücher. Digitale Edition, hrsg. von Gabriele Radecke. Göttingen 2015 ff. (Notizbuch A3).
Gabriele Radecke, Vom Reisen zum Schreiben. Eine textgenetische Betrachtung der Wanderungen am Beispiel des «Pfaueninsel»-Kapitels. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hrsg.): «Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg». Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg im Kontext der europäischen Reiseliteratur. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs in Zusammenarbeit mit der Theodor Fontane Gesellschaft 18.–22. September 2002 in Potsdam. Würzburg 2003 (Fontaneana, Bd. 1), S. 231–252.
Theodor Fontane, Wundersame Frauen. Weibliche Lebensbilder aus den «Wanderungen durch die Mark Brandenburg», hrsg. von Gabriele Radecke und Robert Rauh, Manesse Verlag, Zürich 2019, S. 9–17.
Titelbild:
Blick über die Havel auf die Pfaueninsel (vom Festland Berlin–Wannsee), 2019
Quelle: Robert Rauh