von Gabriele Radecke und Robert Rauh
Er wurde besungen als „schönster Ort im ganzen Havelland“ – und erhielt ein Privileg, das anderen, viel größeren Dörfern verwehrt blieb: Uetz schaffte es, in Fontanes „Wanderungen“ aufgenommen zu werden. Es wurde zwar das kürzeste Kapitel im „Havelland“-Band, aber es war schon in der Erstausgabe von 1873 vertreten und „überlebte“ alle weiteren Auflagen. Seine Aufnahme hat Uetz einem Königspaar und einem Dichterkollegen zu verdanken. Und der Fähre. Denn Fontane interessierte sich weniger für das Dorf als vielmehr für die am Ortsrand gelegene Fährstelle.
Kleinster Fontane-Ort im Havelland: Fährhaus in Uetz, 2023
Foto: Robert Rauh
Wählte man im 19. Jahrhundert für die Fahrt von Potsdam ins Havelland den kürzesten Weg, musste man in Uetz die Wublitz überqueren. Um 1800 rückte die Fährstelle überraschend ins Scheinwerferlicht. Für „kurze Zeit“, schrieb Fontane, „sollte das stille Dorf mit in die Welt, von der es sonst abgeschlossen liegt, hineingezogen werden“. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. und seine berühmte Gemahlin, Königin Luise, hatten das nahe gelegene Paretz zum Sommersitz erkoren. Und weil das Königspaar und seine Entourage immer den Wasserweg wählten, wurde Uetz zum systemrelevanten Verkehrsknotenpunkt. In der Wublitz spiegelten sich nun reich geschmückte Uniformen statt schlichte Bauernkluft, und auf der Dorfstraße entlang schaukelten königliche Kutschen statt stinkende „Dungwagen“.
Fontane in Uetz
Als sich Fontane an einem Nachmittag im August 1869 dem „stillsten Platze“ im Havelland näherte, nahm er am Ufer der Wublitz „auf einem umgestülpten Kahne Platz“, um das Bild auf sich wirken zu lassen, das sich ihm jenseits des Flusses präsentierte. Im Notizbuch zeichnete er, was er später in den „Wanderungen“ beschrieb: „In Terrassen baut es sich auf: zuunterst der Fluss, tief und still und mit den breiten Blättern der Teichrose überdeckt; dahinter ein Schilfgürtel, dann Obstgärten, dann über diese hoch hinaus die alten Ulmen der Dorfgasse, […] das Ganze gekrönt von zwei altmodischen Windmühlen.“
„In Terrassen baut es sich auf“: Blick auf Uetz von der Wublitz, Fontanes Skizze (Notizbuch A17), vermutlich Mitte August 1869
Quelle: Digitale Notizbuchedition, hrsg. von Gabriele Radecke
Terrassen ohne Windmühlen und Windräder: Blick auf Uetz von der versandeten Wublitz (re. unten Dach des Fährhauses, Drohnenfoto, 2023
Quelle: Jonas Becker
Es ist der „Zauber von Uetz“, den der „viel bespöttelte“ Schriftsteller Schmidt von Werneuchen bereits 1802 in seiner Hymne auf Uetz beschrieben hatte und dem nun auch Fontane erlegen war. Die Verse des dichtenden Pfarrers aus Werneuchen sind an unfreiwilliger Komik kaum zu überbieten: „Der dicken Linden losgespühlte Wurzeln, / Worüber oft, so viel die Klucke keift, / Vom Hund gejagt, die jungen Hühner purzeln!“
Während die naive Originalität des „märkischen Sandpoeten“ (Karl Friedrich Zelter) durchaus ihre Leserschaft fand, provozierten die Verse den Spott der Kritiker. Dass Goethe, der eine Parodie auf Schmidts Dichtkunst verfasst hatte, auch differenziert zu urteilen wusste, verdeutlicht eine Notiz des Dichterfürsten, in der Schmidt „der wahre Charakter der Natürlichkeit“ bescheinigt wird. Fontane würdigte Schmidt, indem er dessen hymnischen Einstieg „Du schönster Ort im ganzen Havelland“ seinem Uetz-Kapitel voranstellt. Im Text selbst scheint es so, als wolle der Wanderer seinem Dichterkollegen Konkurrenz machen. Fontanes Poetisierung der Uetzer Uferszene erreicht ihren Höhepunkt mit dem Sonnenuntergang, als die Wublitz sich in einen „Feengarten“ verwandelt.
Nachdem Fontane über die Wublitz „Hol über!“ gerufen hatte, geriet die „ganze Naturbewunderung in Gefahr“, weil sich im Fährhaus „nichts regte“. Irgendwann erschien eine „hagere“ und „in graue Leinwand gekleidete“ Gestalt auf der Zauberbühne. Fontane gelang es auf der Kahnfahrt, den „griesgrämigen“ Fährmann in ein Gespräch über dessen schlecht laufende Geschäfte zu verwickeln – was die Szenerie endgültig entzauberte. Warum der notorisch neugierige Fontane auf eine Besichtigung des Fährhauses verzichtete, bleibt ungeklärt. Vermutlich wusste er nicht, dass das „reizende Haus im Schweizerstil“ 1837 im Auftrag des Königs nach Plänen von Ludwig Persius errichtet wurde.
In die Gegenwart geholt: Fährmann (Skulptur von Sebastian Bauersfeld) am ehemaligen Ufer der Wublitz gegenüber dem Fährhaus, 2023
Foto: Robert Rauh
Wublitz versandet, Fähre verschwunden
Während das Fährhaus die Zeiten überdauert hat, ist die Fontane-Zeit in Uetz nicht stehen geblieben: Die Wublitz ist versandet, die Fähre verschwunden. Und mit ihnen der ganze Zauber. Stattdessen donnern rund hundert Meter von der alten Fährstelle entfernt Tag und Nacht Autos und Lastwagen auf der A10 vorbei. Weil eine Lärmschutzwand bislang fehlt, hat sich Uetz unverdient einen neuen Titel erworben: der lauteste Ort des Havellandes. Lässt man den Krach hinter sich, erstreckt sich um das fast vollständig restaurierte Fährhaus ein kleines Gartenparadies. Statt eines mürrischen Fährmannes residiert dort heute ein freundliches Power-Paar, das nicht nur für die Restaurierung einen langen Atem besitzt, sondern sich auch der Geschichte des Ortes verpflichtet fühlt.
Henry Sawade und Sabine Swientek haben sogar den alten Fährmann in Form einer modernen Eisenskulptur am ehemaligen Wublitz-Ufer in die Gegenwart geholt. Es überrascht daher nicht, wie gebannt beide auf Fontanes Notizbuchaufzeichnungen über Uetz schauen. Und Sawade kann auf dem skizzierten Lageplan der Fährstelle endlich ein Detail entschlüsseln. Bei der gestrichelten Line, die neben der Fähre quer über den Fluss eingezeichnet ist, handelt es sich um das „zwischen beiden Ufern ausgespannte Taue“, mit dem der Fährmann den Kahn über die Wublitz zog. Vor einigen Jahren haben sie ein Stück dieses Seils im Morast gefunden.
„Bublitz“ statt Wublitz: Fontanes Skizze mit Fährhaus, Fähre und Tau; Notizbuch von 1869
Quelle: Digitale Fontane-Notizbuchedition, hrsg. von Gabriele Radecke
Fund im Sumpf: Historisches Tau von der Uetzer Fähre
Foto: Robert Rauh
Der König und der Fährmann
An Tagen des offenen Denkmals wird das prominente Tau – neben anderen Fundstücken – auch „ausgestellt“. Im farbenfrohen Haus erlebt man weitere Überraschungen. Persius hatte auch eine königliche Teestube geplant. Eine Wohnstube für den Fährmann, eine Teestube für den Staatsmann – unter dem Dach des Uetzer Fährhauses waren die Standesschranken aufgehoben. An den Farbschichten der Wände ließen sich die historischen Räume identifizieren. „Persius, König, Fährmann – sie alle sprechen über die Wände“, sagt Henry Sawade. Das Attribut, das einen Raum als diese Teestube enttarnt hat, ist unterhalb der Decke einem umlaufenden Fries zu erkennen: die Lilie – das königliche Symbol.
Henry Sawade (li., Besitzer des Grundstücks) in der rekonstruierten Wohnstube des Fährmanns. Unter der Decke der Flies mit Eichenlaub, 2022
Foto: Robert Rauh
Zu dem ursprünglichen Fährhaus-Ensemble gehörte auch eine reich verzierte Scheune, die 1988 abgebrannt ist. Die Besitzer wollen sie wieder aufbauen: im Untergeschoss wird ein Veranstaltungssaal für Lesungen, Ausstellungen, Konzerte, und im Obergeschoss eine Ferienwohnung entstehen. Der Wiederaufbau lässt sich – wie auch die Rekonstruktion des Hauses – im Internet verfolgen. Fontane lief auch an der Scheune unbeeindruckt vorbei. Nach dem vielen Zauber und der langsamen Überfahrt war er nach dem Sonnenuntergang spät dran. Er musste weiter – nach Paretz.
Soll wieder auferstehen: die alte Scheune (im Hintergrund das Fährhaus), Foto 1924
Quelle: Archiv Sawade
Quelle
- Gabriele Radecke und Robert Rauh: Fontane erlag dem Zauber von Uetz; in: Tagesspiegel vom 28.4.2023
Titelbild
- Sand statt Steine: Dorfstraße durch Uetz, Fotografie um 1910. Quelle: Archiv Sawade
Literatur
- Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 3: Havelland. Die Landschaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg, hrsg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau, Große Brandenburger Ausgabe. 2. Aufl., Aufbau-Verlag, Berlin 1994.
- Radecke, Gabriele/Rauh, Robert: Fontanes Havelland, BeBra Verlag, Berlin 2024 [Kapitel über Uetz: S. 36–49].
- Klenner, Hans-Christian: Ein „Schwedenhäuschen“ für Friedrich Wilhelm III. von Preußen; in: Jahrbuch Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Bd. 5, Potsdam 2003.
- Schmidt, Friedrich: Der Sonntag im Dorfe Uetz; zit. nach: F. W. A. Schmidt, Almanach der Musen und Grazien für das Jahr 1802, Verlag Oehmigke Der Jüngere, Berlin 1802, S. 103–107, hier: S. 106.
Weblinks
- Uetz in Fontanes Notizbüchern: Notizbuch A17 (Reise 7./8. August 1869) und Notizbuch A15 (Reise Mitte August 1869); in: Theodor Fontane: Notizbücher. Digitale Edition. Hrsg. von Gabriele Radecke. Göttingen 2015ff.
- Fährhaus Uetz; in: Website der Besitzer