Fontane und die „Werderschen“

von Gabriele Radecke und Robert Rauh

Es war eine friedliche Eroberung. Ein Sieg über „unsere Sinne und unser Herz“. Jeden Morgen aufs Neue. Die Eroberer waren die Frauen aus Werder, ihre Waffen Körbe mit frischem Obst. Und der Besiegte war ein Junge in Berlin, der im Morgengrauen auf dem Schulweg die Früchte-Flotte auf der Spree heranschwimmen sah: „große Schuten [Transportschiffe], dicht mit Tienen [henkellosen Körben] besetzt, während auf den Ruderbänken zwanzig Werderanerinnen saßen und ihre Ruder und die Köpfe mit den Kiepenhüten gleich energisch bewegten“. Das sei „ein idealer Genuss“ gewesen, erinnerte sich Theodor Fontane später in seinen „Wanderungen“ an die Werderschen – „die besten Freundinnen unserer Jugend“.

Der junge Fontane hatte in Berlin von 1833 bis 1836 die Friedrich-Werdersche-Gewerbe-Schule besucht und musste auf seinem Schulweg die Friedrichsbrücke zwischen Berliner Börse (heute Hackescher Markt) und Museumsinsel überqueren. Hier befand sich der Anlegeplatz für die Obst-Schiffe, die abends zuvor von Werder aufgebrochen waren. Mit einer ironischen Anspielung auf die klassische Schlachtordnung beschreibt Fontane die Einfahrt in die preußische Hauptstadt: Während sich das „erste Treffen [Truppenteil]“ bereits mit dem Obst an den Verkaufsständen präsentierte, war das zweite gerade im Anmarsch. „Die Luft schwamm in einem erfrischenden Duft, und der Kuppelbau der umgestülpten und übereinandergetürmten Holztienen interessierte uns mehr als der Kommodenbau von Monbijou und, traurig zu sagen, auch als der Säulenwald des Schinkelschen Neuen Museums.“

Insel des Obstes: Blick auf Werder, Postkarte, ca. 1910 / Quelle: Archiv Rauh

Fontane in Werder

Erst Jahrzehnte später, auf seinen „Havelwanderungen“ für den dritten „Wanderungen“-Teil, suchte Fontane im Juli 1869 endlich die Heimstatt des Obstes auf. Als sein Auge „der Spitzturmkirche [Heilig-Geist-Kirche] von Werder gewahr wurde“, da stieg in ihm – wie eine alte Liebe – „die Jugendsehnsucht nach den Werderschen“ wieder auf. Angekommen am Bahnhof Werder entschloss er sich zu einem, für seine märkischen Ausflüge ungewöhnlichen Schritt: Er wanderte.

Bei „siebenundzwanzig Grad im Schatten und absoluter Windstille“ ging es vorbei an Gärten und Obstbaumplantagen. Seine „Umschau“ führte ihn schließlich zur Brücke auf die „Garteninsel“ Werder, wo er zu einem kulturgeschichtlichen Exkurs über die Obstabfertigung ausholte. Dass Fontane die Abläufe tatsächlich beobachtete, belegen seine Notizbuchaufzeichnungen. Sie sind eingerahmt von zwei Lageplänen, der „Einladungs- und Ausladungsstelle“ vor der Brücke und vom Platz „Am Markt“ auf der Insel. Beide Skizzen wurden später im gedruckten Text nicht veröffentlicht. Der Aufsatz über Werder erschien 1871 zunächst in der Vossischen Zeitung und zwei Jahre darauf in dem „Wanderungen“-Band über das Havelland. Das Baumblütenfest spielte darin noch keine Rolle, weil es erst 1879 aus der Taufe gehoben wurde. Aber Fontane ergänzte es auch nicht bei den späteren Auflagen, obwohl es sich großer Beliebtheit erfreute.

„An der Brücke“: Fontane vor Ort in Werder, Skizze aus dem Notizbuch, 1869 / Quelle: Digitale Notizbuchedition

„Schaupiel“ der Obstverladung

Fontanes nahezu minutiös geschilderte Obst-Verladung in Werder deckt sich weitgehend mit den Erkenntnissen der Chronisten Klaus-Peter Meißner, Baldur Martin und Klaus Froh, die 2020 den letzten Teil einer siebenbändigen Ortsgeschichte herausgegeben haben. So sei die Obstverladung am Tienenplatz seit 1850 – mit dem Einsatz der ersten Raddampfer – „nach festen Regeln abgelaufen“. Fontane beschreibt sie als „Schauspiel“, das seinen Notizen zufolge gegen 17 Uhr mit dem „Einladen in die Kähne“ begann und um 18 Uhr mit einem „Böllerschuss“ zur Abfahrt seinen Höhepunkt erreichte. Wenn die Werderschen auf dem Oberdeck Platz genommen hatten, setzte sich anschließend „mit großem Geschick“ der Dampfer in Bewegung. Aus dem Notizbuch erfährt man zudem, wie lange die Frauen mit ihren Kirschen, Erdbeeren, Aprikosen und Pfirsichen unterwegs waren: „in vielleicht 6 bis 8 Stunden sind sie in Berlin an der Friedrichsbrück“. Auf der Fahrt waren sie „immer thätig“ – mit „nähen, flicken, stricken“ bis es dunkel wurde. Gegen die Müdigkeit standen „zahllose Bunzlauerkannen“ mit Kaffee bereit.

Ein „Schauspiel“: Abfahrt des Obstdampfers von Werder (Havel) nach Berlin, Lithografie, um 1881 / Quelle: wikimedia

Mit den Werderschen rückte in dem „Havelland“-Band – neben den Ziegelbrennern aus Glindow – erneut eine Bevölkerungsgruppe in den Fokus, die in den „Wanderungen“ eher unterrepräsentiert ist: die Arbeiterinnen und Arbeiter. Fontane thematisiert auch deren soziale Lage. In Werder sei zwar „ein solider Durchschnittswohlstand zu Hause“, ein großes Vermögen lasse sich mit Obst aber nicht anhäufen. Seinen detaillierten Kassensturz leitet der Wanderer mit einer Alltagsweisheit ein: „Wer persönlich anfasst und fleißig arbeitet, wird selten reich.“ Ziehe man vom Gewinn für die Obstbauern die Kosten für Pflückerlohn, Transport, Dung sowie „Ausfalljahre“ durch „starke Fröste“ oder „Blatthöhler“ ab, bleibe unter dem Strich die Erkenntnis: Auch in Werder sei dafür gesorgt, „dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen“.

Postkartenmotiv: Werder im Rahmen, 2022 / Foto: Robert Rau

Werbung für Werder

Für die Werbung in Werder greift man heute auf andere Passagen zurück. In der Tat klingen Fontanes Verse wie „Blaue Havel, gelber Sand, / Schwarzer Hut und braune Hand, / Herzen frisch und Luft gesund / Und Kirschen wir ein Mädchenmund“, die er dem Werder-Kapitel als Motto voranstellte, einladender als eine Kosten-Nutzen-Analyse. Zumal es den Obstbauern heutzutage nicht besser, sondern eher schlechter geht. Nicht nur in Werder sind die Plantagen in ernsthafter Gefahr. Keine Kirschessigfliege in der reifen Frucht, kein Käfer im Baumstamm gefährdet die Obstbäume so sehr wie der Klimawandel. Der Sommer 2022 war der bisher wärmste in Europa, seit es Messungen gibt. Wenn es so weitergeht, sind nicht nur die Kirschen in Gefahr. Forscher der Technischen Universität Dresden, die in Werder Lösungen für eine gesteuerte Wasserversorgung testen, warnen davor, dass eines Tages auch in Brandenburg die Seen austrocknen könnten. Fontanes Havelland ohne Knupperkirschen und Havelseen? Warum reisen die Klimakämpfer nicht auch zum Baumblütenfest an, um sich an den Kirschbäumen festzukleben?

Quelle

Titelbild

  • Verladung für das Obst aus Werder per Lastkahn nach Berlin, Fotografie, 1910 / Quelle: Stadtmuseum Werder (Havel)

Literatur

  • Fontane, Theodor: Ost-Havelland. Die Landschaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg. Wilhelm Hertz, Berlin 1873.
  • Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 3: Havelland. Die Landschaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg, hrsg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau, Große Brandenburger Ausgabe. 2. Aufl., Aufbau-Verlag, Berlin 1994.
  • Gabriele Radecke/Robert Rauh: Fontanes Havelland. Neue Wanderungen durch die Mark Brandenburg, BeBra Verlag, Berlin 2023.
  • Baldur Martin, Dr. Klaus-Peter Meißner und Dr. Klaus Froh (Hrsg.): Werder (Havel). 700 Jahre Ortsgeschichte, 7 Bände, Knotenpunkt Verlag 2020. 

Weblinks

  • Fontane, Theodor: Notizbücher. Digitale Edition, hrsg. von Gabriele Radecke. Göttingen 2015–2020: Notizen zu Werder (1869) 
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