Veröffentlicht von Gabriele Radecke und Robert Rauh.
„Wer kennte nicht Neustadt?“, fragt Fontane. Und stellt zu Beginn seines Kapitels fest: Einerseits gehöre es zu den Städten, „von denen die Welt nur den Bahnhof kennt“ und „andererseits zu denen, die beständig verwechselt werden.“ In der Tat: Allein in Deutschland gibt es über zwanzig Gemeinden und doppelt so viele Ortsteile, die Neustadt heißen. Unser Neustadt gehört zum Landkreis Ostprignitz-Ruppin und liegt an der Dosse.
Fontanes Lageskizze von Neustadt von 1873.
Quelle: Digitale Notizbuchedition
„Zahllose Male“ sei er mit dem Zug hier vorübergefahren, schreibt Fontane in den „Wanderungen“. Denn seit 1846 besaß der Ort einen wichtigen Durchgangs- und Umsteigebahnhof an der Berlin-Hamburger Bahn. Am 29. September 1873 stieg er endlich aus. Denn Neustadt sollte in die dritte Auflage seines ersten „Wanderungen“-Bandes aufgenommen werden. „Ein anmutiger Spaziergang, bei sinkender Septembersonne“, führte ihn dem Ort entgegen. Die kleine Wanderung von „fünf Minuten“ war notwendig, weil der Bahnhof damals noch außerhalb der Stadt lag, wie Fontanes Lageskizze aus seinem Notizbuch zeigt.
Fontanes Ghostwriterin
Im Ort besichtigte er die Kreuzkirche. Sein Urteil ist alles andere als schmeichelhaft: „Sie gibt sich sauber von außen und innen, womit so ziemlich erschöpft ist, was sich zu ihrem Lobe sagen lässt.“ Vor allem „langweilig“ sei die symmetrische Anordnung, „die mehr durch Nüchternheit stört, als durch Übersichtlichkeit erbaut“.
Natürlich ließe sich über den Kunstgeschmack Fontanes streiten, aber er hat die Kirche nur von außen gesehen. Offenbar traf er niemand an, der ihm den Eintritt ermöglichte. Daher bat er die „liebe Lise“ um Hilfe. Elise Fontane war es gewohnt, Aufträge ihres Bruders entgegenzunehmen. „Richte es so ein“, forderte er sie am 12. Oktober 1873 auf, „dass du eine gute halbe Stunde eher, als sonst nötig sein würde, in der Stadt Neustadt eintriffst, und lass Dir dort von einem Kantor oder Küster die Kirche aufschließen. Von dieser gib mir dann eine kurze Beschreibung.“ Dass Elise den brüderlichen Auftrag „ungeheuer prompt und zuverlässig“ erfüllte, belegt Fontanes Dankesbrief vom 16. November, in dem der Dichter in dieser Angelegenheit bilanziert: „Über Neustadt bin ich nun genügend unterrichtet.“ Ghostwriterin sei Dank.
Nüchtern und unspektakulär auch heute noch: Kreuzkirche in Neustadt/Dosse, 2018.
Quelle: Robert Rauh
Wie in einem Pavillon
Als wir die Kirche mit dem Grundriss eines griechischen Kreuzes aufsuchen, herrschen in Brandenburg peloponnesische Verhältnisse. Vom blauen Himmel strahlt die heiße Sonne in jeden Winkel. Kaum ein Mensch ist auf den staubigen Straßen zu sehen. Die Einsamkeit der Kirche erinnert an die viel kleinere, aber ebenso weiß getünchte Agia Paraskevi auf Kreta. Der Erbauer, Friedrich von Hessen-Homburg, ließ sich aber durch die Norderkerk in Amsterdam inspirieren. Holland war nach dem Dreißigjährigen Krieg nicht nur bei Meliorationsfragen in Brandenburg ein Vorbild.
Außen ist die „Nüchternheit“ der Kirche nicht zu bestreiten. Die großen Rundbogenfenster an den weißen Achteckseiten sind in ihrer Phantasielosigkeit nicht zu überbieten. Auffällig ist lediglich die schwarze Kuppel, die von einer doppelten, achteckigen Laterne mit geschweifter Haube gekrönt wird. Das Kircheninnere wirkt jedoch weder nüchtern noch „langweilig“. Die Kirche besticht durch schlichte Eleganz. Von allen Seiten flutet Licht durch die riesigen Fenster. Und verleiht ihr einen heiteren Pavilloncharakter. Fontane, nein Elise sah das anders.
Lichtdurchflutet im Innern: Der Altar der Kreuzkirche in Neustadt/Dosse.
Quelle: Robert Rauh
Quelle:
Märkische Allgemeine Zeitung vom 27.7.2019